Warum die Sicherheit nicht zurückkommt, klassische Planung tot ist – und wie wir resilient werden

Artikel Unsicherheit und Resilienz

 

In immer mehr meiner Beratungsmandate stelle ich fest, dass wir uns mit etwas beschäftigen, das deutlich weiter reicht und tiefer geht als der Aufbau oder die Optimierung von Marketing und Kommunikation. Verfolgt man die W-Fragen, gelangt man meistens an denselben Ursprung: wir bewegen uns aus einer Welt, in der wir die Zukunft planen und berechnen können, in eine Welt, in der wir lange nicht mehr alle Variablen im Blick behalten und immer weniger vorhersehen können.

Diese Entwicklung lässt sich gut mit einem Begriff aus der Thermodynamik beschreiben: Entropie. Entropie ist ein Maß für Unwissenheit – sie bezeichnet die Zahl der Möglichkeiten, wo sich ein einzelner Baustein zu einer bestimmten Zeit aufhalten und wohin er wie schnell unterwegs sein kann. Je größer diese Zahl ist, desto schwieriger ist es für uns, vorherzusagen, wo wir ihn als nächstes antreffen.

Was hat das mit Wirtschaft zu tun? Entropie ist nicht darauf beschränkt, das Verhalten von Gasen oder Elektronen zu untersuchen, sie beschreibt jedes System gleichermaßen. Entscheidend für uns ist: in geschlossenen System steigt sie unvermeidlich.


Die Weltwirtschaft ist zur Unsicherheitsmaschine geworden

entropie

Das betrifft uns heute unmittelbar: Mit dem Abbau immer neuer Ressourcen als „Treibstoff“ und dem Erschließen immer neuer Märkte als „Auspuff“ war die Wirtschaft die längste Zeit ein offenes System und konnte daher das Maß an Unwissenheit überschaubar halten.

Inzwischen jedoch hat die Weltwirtschaft ein Volumen erreicht und einen Grad an Vernetzung –auch durch die Digitalisierung, doch ist diese nur das jüngste Glied in einer langen Kette, die frühestens mit den Fuggern und spätestens mit dem Telegrafen begann –, bei denen sich der Kreislauf schließt:

Bei unserer momentanen Wirtschaftsweise beuten wir die natürlichen Ressourcen so schnell aus, dass nicht mehr genug für Alle vorhanden ist und somit die Handlungen des Einen die Möglichkeiten des Anderen direkt einschränken. Zugleich bleiben immer weniger neue Märkte zu erschließen übrig und immer mehr Märkte sind gesättigt, so dass Aufmerksamkeit, Kauf- und Arbeitskraft für den einzelnen Anbieter ebenfalls knappere Güter werden.

Kurzum: die heutige Weltwirtschaft ist ein geschlossenes System geworden – also steigt die Entropie, also können wir immer weniger wissen und immer weniger direkt beeinflussen.

 

Wir wissen nur noch, was wir nicht wissen – das aber genau
„Ich weiß, dass ich nichts weiß“, definierte Sokrates seine Weisheit. Wir ähneln ihm mehr und mehr: Während klassische Prognose- und Planungsverfahren – von der Demoskopie über die Kampagnen- bis zur Liquiditätsplanung – immer häufiger schmerzlich scheitern, gibt uns die Mathematik stets raffiniertere Verfahren an die Hand, mit denen wir zumindest absehen können, bis wohin unsere Sicht noch reicht.
Ein eindrucksvolles Beispiel ist der Lyapunov-Exponent und die daraus berechenbare Lyapunov-Zeit, mit der sich der Horizont bestimmen lässt, innerhalb dessen man noch belastbare Vorhersagen treffen kann. In diesem Raum funktioniert die Welt noch ungefähr so, wie wir es gewohnt sind. Doch dieser Raum schrumpft fortlaufend.

Ziehen wir uns also auf ein Atoll zurück, das Stück für Stück vom steigenden Meeresspiegel verschlungen wird – oder wagen wir uns über den Rand des Wissbaren hinweg?

Wollen wir nachhaltig erfolgreich bleiben, bleibt uns nur das Segeln über den bequemen Horizont hinaus. Dabei wissen wir jedoch, dass wir uns in diesen Gewässern nicht mehr auf unsere Planungen und Routinen verlassen können. Es ist schlichtweg nicht hinreichend absehbar, was als nächstes kommt.

 

Im Ungewissen greifen andere Strategien – und Vorsorge ist die beste Optimierung

Damit ändern sich aber auch die Faktoren, die uns erfolgreich machen – oder untergehen lassen. In einer berechenbaren Welt zählen der enge Fokus und die maximale Effizienz: Wer das, was als nächstes kommt, zuerst erkennt und sich genau darauf optimal ausrichtet, die Produkte entwickelt, die präzise in diese Lücke passen, und die Prozesse dafür bis zur Perfektion optimiert, trifft die Nachfrage mit einem überlegenen Angebot und guter Marge.

In einer Welt voller Ungewissheiten und Überraschungen wird diese Vorgehensweise zum Risiko: Richten wir unsere Produkte, Prozesse und Systeme ganz auf einen vermeintlich sicheren Ausgang ein und es kommt doch ganz anders, sind wir mit Volldampf in die falsche Richtung gesegelt und brauchen zu viel Zeit und zu viele Ressourcen, um uns auf die unerwartete neue Situation einzustellen. Passiert uns dies häufiger, ist unsere Vorgehensweise unterm Strich alles andere als effizient – sondern weist uns den Weg der Dinosaurier.

Es mag paradox klingen, aber der effizienteste Weg in einer unberechenbaren Welt ist, für möglichst viele verschiedene Ausgänge gerüstet zu sein – und damit seine Produkte und Portfolios zu diversifizieren, seine Prozesse flexibler aufzustellen, seine Systeme vielfältiger auszulegen. Streuung und Vernetzung statt Fokussierung und Straffung führen zum Erfolg.


Resilienz ist die neue Effizienz – oder: wie man sich ändert, ohne sich untreu zu werden

Doch verzetteln wir uns damit nicht? Ist das nicht letztlich ein Plädoyer für Beliebigkeit, Chaos und immer größere Streuverluste? Wenn es ein ungerichteter Prozess ist, dann ja. Doch aus verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen – von der Ökologie über die Psychologie bis zu den Ingenieurswissenschaften – halten wir ein Konzept in der Hand, das die Lösung liefert: Resilienz.

Zwar gibt es über die verschiedenen Fachrichtungen hinweg noch keine einheitliche Definition, doch lässt sich der gemeinsame Kern einfach herausarbeiten: Resilienz bezeichnet die Fähigkeit, Schocks abzufedern und sich an Veränderungen anzupassen, ohne sich selbst aufzugeben.

Dieser zweite Aspekt ist entscheidend: die Leitschnur ist, wie weit ein Unternehmen weiterhin in der Lage ist, seine Ziele zu erreichen und seine Funktion zu erfüllen – nur eben unter sich ständig wandelnden Bedingungen, für die man sich immer wieder neu aufstellen muss.


Das AGILe Unternehmen – ein Management-Modell für die Welt von heute und morgen

Das Thema ist neu – doch ein Modell, mit dem wir es für unsere konkrete Arbeit greifen können, stammt aus den frühen 1950er Jahren: ausgerechnet ein Soziologe, der Amerikaner Talcott Parsons, formulierte mit dem AGIL-Schema das beste Konzept für ein resilientes System in einer dynamischen Umwelt (Begriffe, die zu seiner Zeit weder er noch sonst jemand in den Mund nahm), das mir bisher begegnet ist.

Er definiert vier Kernfunktionen, die ein System – und da wir hier über Unternehmen sprechen: ein Unternehmen – im Gleichgewicht halten muss, um im Wandel erfolgreich zu bleiben: Adaption, Ziel-Fokus (Goal Attainment), Integration und Mustererhaltung (Latent Pattern Maintenance).

AGIL-Schema Parsons als ResilienzmodellDas mag zuerst noch abstrakt klingt, doch kann ich diese Funktionen unmittelbar auf die praktische Unternehmensführung herunterbrechen:

Ziel-Fokus bedeutet: Je mehr wir Unerwartetes einbeziehen und improvisieren müssen, je häufiger wir uns neu erfinden müssen, desto klarer müssen wir greifen, was wir unabhängig von diesen Wechselfällen erreichen wollen – was also unsere Ziele sind, welche klaren Haltungen und Entscheidungsregeln sich daraus für die Arbeit ergeben, und wie wir die Zielerreichung stets im Blick behalten.

Adaption bedeutet: Wie weit erlauben uns unsere Organisationsstruktur, unsere Art zu steuern, unsere Systeme und unsere Kultur, schnell und schlagfertig auf Abweichungen von unseren Annahmen zu reagieren? Wie früh erkennen wir solche Abweichungen überhaupt? Wie gut können wir aus verfestigten Routinen ausbrechen?

Integration bedeutet: Wie aktiv beschäftigen wir uns mit neuen Trends und Möglichkeiten? Wie weit berücksichtigen wir bei unseren Planungen und Entwicklungen von vornherein verschiedene mögliche Ausgänge? Wie stark beziehen wir unsere Stakeholder in Innovationsprozesse ein und suchen früh Feedback auf neue Ideen? Haben wir dafür überhaupt ausreichend tragfähige Beziehungen?

Mustererhaltung bedeutet: Wie weit können wir auch dann, wenn bisher tragende Säulen ins Wanken geraten oder klare Ansagen einmal fehlen, produktiv weiterarbeiten? Wie abhängig sind wir von einzelnen Produkten, Verträgen, Systemen und Personen – und können wir dieses Risiko verringern? Wie stark hat jeder Einzelne Haltungen und Ziele so verinnerlicht, dass er auch ohne Führung im Sinne des Unternehmens handelt? Wie weit wird Know-how dokumentiert und geteilt?

So ergibt sich ein ganz anderer Fokus als in bisherigen Management- und Bewertungsmodellen: Wir sprechen hier kaum noch über die Aufbauorganisation, über Vermögenswerte oder Planungsverfahren – sondern über Führungs-, Prozess- und Beziehungsqualität. New Age-Spinnerei? Hippietum ausgerechnet von einem Unternehmensberater? Ich biete Ihnen gerne die Wette an – um einen Einsatz Ihrer Wahl: binnen der nächsten 10 Jahre werden eben diese Kriterien die entscheidenden für den Erfolg Ihres Unternehmens werden!


Was meinen Sie? Ich freue mich darauf, von Ihnen zu hören!

 

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2 Kommentare
  1. Moin,
    ein sehr anregender Ansatz!! Die weitergehende Frage zur Resilienz stellt sich nach der Außen- und Innenansicht an der Korona des Unternehnmens. Muss ein Unternehmen zuerst von innen oder außen resilienter werden? Ein Prozeß der sowohl auf das Management der Prozesse von Mensch, Maschine und Arbeit im System, als auch der außerbertrieblichen Rahmenparameter beziehen muss. An der „Dichte“ der resilienten Firewall entscheidet sich zukünftig das Wohl und Weh der Überlebensfähigkeit der Organisation „Unternehmen“.

    Beste Grüße
    B. Becker

  2. Vielen Dank für den spannenden Kommentar!
    Statt von einer Firewall hätten Systemtheoretiker wie Parsons oder Luhmann wohl von einer „strukturellen Kopplung“ zwischen dem System und seinen Umsystemen gesprochen – also einer Art offenen Schnittstelle, durch die ständig Austausch stattfindet, der die beteiligten Systeme im inneren Gleichgewicht hält (z.B. auch durch Entropie Im- und Export… jetztlich gilt es ja bei einem genaueren Blick auf die vier Funktionen, „Chaos“ und „Ordnung“ in einer stets prekären Balance zu halten). Insofern entspricht die Frage, ob ein Unternehmen zuerst von innen oder von außen resilienter werden muss, aus meiner Sicht der Frage nach der Henne oder dem Ei: sie ist so nicht beantwortbar, nicht zuletzt da Resilienz sowohl Produkt als auch Indikator dieses „gesunden“ Austauschs zwischen „innen“ und „außen“ ist. Insofern ist womöglich die primäre Aufgabe künftiger Unternehmensführung, diesen Austausch sehr bewusst und gezielt zu gestalten – inklusive der Frage, wie man entsprechende „Bälle“ optimal aufnimmt und welche Impulse man mehrwertstiftend ausgeben kann.

    Beste Grüße
    Jan Schoenmakers

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