Wieso uns die Mehrheit nicht interessieren muss

Die Mehrheit interessiert uns nicht

 

Für einen Wandel in Markt oder Gesellschaft ist die Mehrheit ebenso unerheblich wie die „Mitte der Gesellschaft“– ob es um die Annahme einer Produktinnovation, verändertes Konsumverhalten oder einen politischen Umschwung geht: die Dynamik geht von den radikalsten Minderheiten aus. Eine steile These… die seit den 60er Jahren wissenschaftlich untermauert wird. Zeit, den Gedanken ernst zu nehmen!


Die „Minderheiten-Regel“

Ein Buch macht derzeit die Runde durch Feuilleton und Wirtschaftsteil: Nassim Taleb, Erfinder des „Schwarzen Schwans“ und Prophet der großen Wirtschaftskrise von 2007, arbeitet sich in „Skin in the Game“ engagiert an Ungleichgewichten im Markt ab. Taleb glaubt nicht an Subtilität, und wo gehobelt wird, fallen Späne. An nichts jedoch entzündet sich die Kontroverse so stark wie an seiner „Minderheiten-Regel“:

„Eine hinreichend kompromisslose Minderheit, für die es um viel geht, muss lediglich einen gewissen, aber kleinen Anteil an der Gesellschaft erreichen, zum Beispiel 3 oder 4 Prozent, um in der gesamten Bevölkerung ihre Präferenzen durchzusetzen.“ (Taleb)


Die Unflexiblen setzen die Standards

Sturheit gewinntWer nun eine Hexenjagd wittert, kann sich entspannen: es geht nicht um finstere Fanatiker, die mit Schwert und heiliger Schrift in der Hand die Gesellschaft unterjochen – sondern um simple Effizienz: wir versuchen, unsere Welt – ob Markt oder Gesellschaft – so einfach zu halten wie möglich. Jede „Extrawurst“ erhöht die Komplexität und macht Aufwand.

Genau hier greift die „Minderheiten-Regel“: jeder Anbieter, jeder Gesetzgeber strebt nach einem Produkt, das für Alle passt… für den gemeinsamen Nenner muss im Zweifel jeder Einzelne kleine Kompromisse machen. Was aber ist mit denen, die nicht bereit – oder fähig – sind, dabei mitzuspielen? Sie werden sich kategorisch weigern, sich niemals fügen.

Für den Einzelnen bleibt das in der Regel privates Risiko. Ab einer gewissen Zahl jedoch werden Verweigerung oder Protest zu laut, um sie zu ignorieren… man muss damit umgehen: entweder, in dem man für diese Minderheit eigene Lösungen anbietet – oder, in dem man ihre Bedarfe in das allgemeine Produkt, die allgemeine Regel einbezieht.

Letzteres ist immer ökonomischer und oft einfacher: in den meisten Fällen macht es der undogmatischen Mehrheit wenig aus, auf eine radikale Minderheit Rücksicht zu nehmen, weil sie in ihrem eigenen Verhalten flexibler – und leidenschaftsloser – ist.


Verweigerung siegt – ob auf dem Teller oder im Meeting

Zwei Beispiele von Taleb veranschaulichen diesen Punkt:

Erdnüsse gehören zu den Lebensmitteln mit den häufigsten Unverträglichkeiten. Dennoch stellen Menschen mit Erdnussallergie eine sehr überschaubare Minderheit. Nichtsdestotrotz gibt es in Schulkantinen oder Flugzeugen gibt es häufig keine Produkte, die Erdnüsse enthalten: Menschen mit Erdnussallergie werden niemals Erdnüsse essen, für Menschen ohne Erdnussallergie spricht jedoch nichts dagegen, keine Erdnüsse zu essen. Zwei verschiedene Speisepläne und Verarbeitungs-Weisen (Spuren!) anzubieten, verdoppelt hingegen die Komplexität und erhöht die Kosten.

Ein analoges Beispiel aus der Geschäftswelt: Sobald in einem Meeting bei einem deutschen oder holländischen Unternehmen ein einziger Teilnehmer die Landessprache nicht versteht, wird es in der Regel auf Englisch gehalten, statt es für ihn simultan zu übersetzen. Es ist weniger komplex und günstiger als die Übersetzung – und während es einem Mitglied unmöglich ist, die Landessprache zu sprechen, ist es für die anderen möglich und zumutbar, Englisch zu sprechen.


Märkte und Gesellschaften preisen Radikalität mit ein

„Märkte bilden nicht die Summe ihrer Teilnehmer ab, die Preisänderungen reflektieren vielmehr die Handlungen des am stärksten motivierten Käufers und Verkäufers. […] Ein Aktienkurs kann um zehn Prozent einknicken wegen eines einzigen Verkäufers. Er muss nur stur genug sein – zum Beispiel, weil er aus der Not verkauft und sich so definitiv nicht durch fallende Preise umstimmen lässt. Märkte reagieren disproportional zum Impuls.“ (Taleb)

Im Klartext bedeutet das: im Markt wie in der öffentlichen Meinung werden nicht nur die Verhältnisse von Angebot und Nachfrage im Ergebnis abgebildet – sondern auch ihre Elastizität: je radikaler eine Position oder ein Produkt sind, desto stärker ist der Impuls, den sie in Preis- und Meinungsbildung senden. Die anderen Marktteilnehmer reagieren auf die Erwartung hin, dass jemand seinen Kurs nicht nach den üblichen Kriterien ändern oder verhandeln wird, bis zu einem gewissen Grad nachgiebig – und gewähren so Kompromisslosigkeit einen Bonus.

Es ist der Effekt, den ich 2014 in einem Essay bei heise Telepolis dargelegt habe:

„Deshalb ist [der pragmatische Staat] schwach gegenüber idealistischen Systemen, die sich auf etwas Absolutes, Heiliges beziehen. Wer auf eine Richtschnur zurückgreifen kann, die unabhängig von der Situation gilt, entscheidet schneller, klarer und ist unnachgiebiger als der, der ohne feste Werte aus einer Logik offener Verhandlungen handelt. Wer etwas Heiliges hat, toleriert seinen eigenen Untergang um dessentwillen. Er ist bereit, Sanktionen auf sich zu nehmen, um die Welt nach seinem Bild umzuschaffen.“


Eine alte, unbequeme Wahrheit

Damals wie heute wird diese These leidenschaftlich diskutiert – dabei könnte ein Blick in die Wissenschaft die Lage klären: die Verbreitung und der Rückgang von Produkten, Verhaltensweise und Meinungen wird seit den 1950er Jahren intensivst untersucht – und die Ergebnisse bestätigen eindeutig die „Minderheiten-Regel“:

Bereits 1962 hatte Everett Rogers in seinem bahnbrechenden Buch „Diffusion of Innovations“ mit zahlreichen, breit angelegten Studien belegt, dass es oft lediglich 5% der Bevölkerung braucht, die ihr Verhalten ändern, um eine Akzeptanz für ein neues Produkt oder Verhalten in der gesamten Gesellschaft zu erzeugen. Haben erst einmal 10 bis 25% ihr Verhalten geändert, ist in der Regel ein Prozess in Gang gesetzt, mit dem sich die Innovation global durchsetzt.

Elisabeth Nölle-Neumann – als junge Frau Meinungsforscherin und Stichwortgeberin für Göbbels, als Dame im besten Alter für Helmut Kohl – postulierte 1980, dass der Prozess auch andersherum läuft und nannte das „Schweigespirale“: nicht, wer mit seiner Meinung wirklich in der Minderheit ist, sondern wer lediglich meint, damit in der Minderheit landen zu können, traut sich weniger, sie zu äußern.

So gut das ins Weltbild der „Meinungsdiktatur“-Mahner passen würde: Nölle-Neumann hatte unrecht, was die einschüchternde Wirkung der Massenmedien betrifft. Eine große Zahl an Studien in den 1980er und 1990er Jahren (u.A. von Jürgen Gerhards, Carroll Glynn, Eunkyung Park, Helmut Scherer und Serge Moscovici) haben gezeigt, dass weniger als 5% der Menschen in der Öffentlichkeit verstummen, weil sie sich nicht unbeliebt machen wollen. Vielmehr gibt es zu beinahe jedem Thema einen harten Kern von über 5%, der sich je lauter und missionarischer ins Rampenlicht drängt, desto mehr er sich in die Enge gedrängt fühlt!

Die Mehrheit hingegen setzt sich zusammen aus Menschen, die sich generell enthalten oder pragmatisch dem jeweils eingeschlagenen Kurs folgen, ohne eine sonderliche Meinung oder Präferenz zu äußern.


Filterblasen – die älteste Erfindung der Menschheit

Menschen orientieren sich also nicht an öffentlichen Mehrheiten – und Mehrheiten entscheiden nicht, sondern folgen in der Regel dem Weg des geringsten Widerstandes. Doch wie formieren sich Bewegungen, sei es die Nutzung von WhatsApp oder der Aufstieg neuer Parteien?

Menschen orientieren sich an Menschen – und zwar an denen, die ihnen am nächsten stehen. Bereits 1958 hat Melvin De Fleur bestätigt, was Paul Lazarsfeld in den 1940er Jahren diagnostizierte: was einem Bekannte erzählen, was man im Flurfunk aufschnappt, was die Freunde für Produkte nutzen, entfaltet – sofern es einem hinreichend betrifft – mehr Wirkung als die Massenmedien.

Lori Bergen und Dieter Fuchs entdeckten 28 bzw. 33 Jahre später unabhängig voneinander, dass die Meinung und das Verhalten der wichtigsten Menschen um uns herum nicht nur unsere Einstellungen ändern können, sondern uns in der Tat oft eher verstummen lassen, bevor wir eine unpopuläre Ansicht äußern. Eine ironische Wendung: Nölle-Neumanns Schweigespirale gilt also nicht für die „Lügenpresse“ – sondern für den Stammtisch!

Je mehr uns jedoch etwas am Herzen ist, desto eher springen wir selbst gegenüber unseren Nächsten über unseren Schatten und werben für unsere Position. Und je eher wir dadurch zum Meinungsführer werden, desto weniger sind wir bereit, die Dinge auch mal anders zu sehen. Auch im privaten Umfeld gilt also: die „Glaubensfesten“, „Kompromisslosen“ geben – im Wortsinn – den Ton an.

Das Internet – insbesondere die Sozialen Medien – verstärken diesen Effekt, der eigentlich Familie, Freundeskreis und den engsten Kollegen vorbehalten ist: je mehr Menschen in ihren sozialen Netzwerken miteinander verknüpft sind, desto weniger orientieren sie sich an Medien oder Öffentlichkeit und desto stärker erfassen sie die Meinung der Menschen in ihren Netzwerken. Die digitale Filterblase ist nichts Neues – sie skaliert den Stammtisch jedoch hoch zu einer ungeahnten Größe: eine Entwicklung, die Hans Zetterberg in einer visionären Studie bereits 1992 voraussagte.


Je egaler, desto radikaler – Werte setzen Grenzen

Aus dieser Perspektive überrascht es nicht, dass der öffentliche Diskurs stärker polarisiert (und oft weniger differenziert) ist als die Meinung zufällig ausgewählter Menschen und dass radikale Innovationen, Positionen und Bewegungen überproportional Gehör finden, oft auch überschätzt werden.

Nichtsdestotrotz erleben wir keinen glatten Durchmarsch für jede disruptive Neuerung oder radikale Haltung, die 5% „User Base“ erreicht. Viele Filterblasen, viele Effekte der „Minderheiten-Regel“ sind erstaunlich vorhersehbar. Denn es gibt bei allem Rückenwind, den „Evangelists“ aller Arten zu entfalten wissen, eine natürliche Barriere: der Gegenwind vorherrschender Werte.

Wie flexibel die Mehrheit auf die Bedürfnisse, Verhaltensweisen und Haltungen einer „sturen“ Minderheit reagieren kann, hängt davon ab, wie nah ihr ein Thema geht. Sind die Prinzipien berührt, geht es ans Eingemachte, sind der Anpassungsbereitschaft enge Grenzen gesetzt. Andersherum: je egaler uns etwas ist, desto mehr Durchschlagkraft entfalten die Kompromisslosen, Radikalen, Disruptiven.

Taleb zeigt dies an einem spannenden Beispiel: In den USA und im Vereinigten Königreich ist der Anteil an ernstlich praktizierenden Moslems höher als der vergleichbar ernsthafter Juden. Während sowohl koschere als auch halal-Lebensmittel zumindest in Großstädten häufiger vertreten sind, als dem Anteil der entsprechenden Religion an der Bevölkerung entspricht, findet man häufiger koscher als halal. Es handelt sich um Gesellschaften, in denen das Image des Judentums deutlich besser ist als das des Islam. Im Allgemeinen dürfte es den nicht-Moslem wenig interessieren, ob sein Fleisch halal oder nicht-halal ist – Fleisch ist Fleisch. Wer sich jedoch vor dem Islam fürchtet, wird mit der gleichen Kompromisslosigkeit nicht halal essen, mit der der überzeugte Moslem „unreines“ Fleisch zurückweist.


Macht Marketing für Minderheiten – aber für die richtigen!

So gesehen bellen wir Kommunikatoren und Marketers häufig den falschen Baum an, wenn wir versuchen, „mehrheitsfähige“ Produkte und Botschaften zu schaffen, die Polarisierung vermeiden und den Kampagnenerfolg in Reichweite und Wiedererkennung messen.

Wer die „Minderheiten-Regel“ und die zahllosen Befunde hierzu akzeptiert, muss vielmehr auf diejenigen, für sein Thema oder Produkt passenden Gruppen setzen, die mit Leidenschaft bei der Sache sind, keine Angst haben anzuecken und untereinander eng vernetzt sind. Für eine solche Klientel konsequent einen Mehrwert zu schaffen, der ihnen wirklich etwas bedeutet, macht sie zu Botschaftern, die Wirkung weit, weit über ihren Anteil an der Bevölkerung hinaus erzielen.

Hier lohnt es sich durchaus, auch in Design, Packaging und Kommunikation klar und kompromisslos zu sein – gelingt es, eine solche Gefolgschaft zu aktivieren, erzielt sie automatisch eine „Mehrheits- bzw. Anschlussfähigkeit“, so lange das Produkt oder die Position nicht mit tief verwurzelten, von vielen (ansonsten eher indifferenten) Menschen geteilten Werten zuwider läuft.

Influencer und Communities statt Massenmedien. Kommunikations-Intensität (Interaktionsraten, Engagements, Äußerungen pro Person, Returning Visitors, etc.) statt Reichweite. Reale Peer Groups statt statistischer Zielgruppen. Emotionale Aufladung statt bloßer Bekanntheit. Begeisterung bei Wenigen, eng-Vernetzten, Unbeugsamen statt höfliche Anerkennung der Meisten.

Über ein Vierteljahrhundert nach der Einführung des Browsers und gut 15 Jahre nach dem Aufkommen des Sozialen Netzes hat die neue Welt des Social Marketing gerade erst begonnen, ihren Herrschaftsanspruch anzumelden – und wird der alten Welt der „Massenkommunikation“ keine Chance lassen.

 

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